Tolle Lege
Dienstag, 27. Januar 2009
Ich lese mich selbst
Dienstag, 27. Januar 2009, 00:50
Der Seher in Asterix las unter anderem besonders gut aus Fischen. Auch sonst nahm er alles, was die Gallier ihm brachten, und las ihnen aus ihren Gaben alles, was sie hören wollten. Heutzutage sind wir gezwungen, alles in uns selbst zu finden. Irgendwie pervers, oder? Jedenfalls aus der Sicht des Sehers. Für den wäre das Kannibalismus gewesen.
Trotzdem schaue ich mal in meine alten Tagebücher, was ich da so finde. Am 20. August 2001, dem 100. Geburtstag meines Großvaters, las ich Hans Bürki's Buch "Im Leben herrschen".
Hans Bürki hat diesen Vortrag vor Mitgliedern der Studentenmission gehalten und ihn später als Buch veröffentlicht. Auch bei ihm geht es um Selbstlektüre:

Manche stehen mit ihrer eigenen Art im ständigen Widerspruch, weil sie meinen, diese sei ihnen selbst oder Gott im Wege. Doch nicht ihre Art steht im Wege, sondern sie selbst versperren sich den Weg. Sie verachten ihre eigenen Gaben und lassen sie ungenützt, weil sie mehr haben und sein wollen, als sie in ihren Augen erscheinen. Dauernd schielen und jagen sie nach Charaktereigenschaften und Lebensformen, nach Aufgaben und Wirkungsweisen, die sie für besser, wichtiger, geistlicher, ehrenvoller halten.

Wieso habe ich das damals aufgeschrieben? Damit ich es heute lese? Und weiter heißt es:

Es wird uns sehr demütigen, wenn wir einmal erkennen, wieviel göttlicher Gnade wir verschwenden, weil wir entweder in eigener Kraft ohne Gnade vorankommen oder in falscher Trägheit uns von der Gnade treiben lassen wollen ohne unseren eigenen Einsatz. Die Gnade hält den menschlichen Einsatz nicht auf, sie ermöglicht ihn erst richtig, indem sie ihm Antrieb, Zielrichtung und Gestalt gibt. Die Gnade unterdrückt nicht das menschliche Temperament, die individuelle Art, die persönliche Begabung, vielmehr reinigt und entfaltet sie alles Gott gemäß.

Und wie geht das alles? Wie läßt man diese Gnade richtig wirken? Wie kommt man voran, nicht aus eigener Kraft oder in Trägheit sich treiben lassend?

...ich habe es mit meinem Herrn zu tun, mit ihm allein. In der Übung der Einsamkeit vor Gott öffnet er mir Herz und Verständnis, damit ich erkenne, in welchem Ausmaße ich mich gewöhnt habe, vor den Augen der Menschen zu leben, wie sehr mein Tun und Lassen bestimmt wird durch Menschenfurcht und Menschengefälligkeit. Ich merke dann immer besser, wie sehr wir uns im geheimen leiten und bestimmen lassen von Menschen aus Fleisch und Blut, von Büchern, Gedanken, Systemen, Vorstellungen, ja von unseren eigenen guten und schlechten Vorurteilen, Erfahrungen, Absichten und Wünschen.

Ich muß sagen, zum Thema "Ich lese mich selbst" paßt das alles recht gut. Sollen andere halt weiter aus Fischen lesen.

Jordanus

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



Dienstag, 12. August 2008
Plutonische Dialoge
Dienstag, 12. August 2008, 23:49
Eine Wanderung, 1924, zwischen Kreuth und Achensee in Bayern. Die Wanderer sind wegen des Nebels orientierungslos und suchen einen Ausweg.

Der Nebel wurde stellenweise so dicht, daß wir die anderen aus dem Blickfeld verloren und uns nur noch durch Rufen verständigen konnten. Aber gleichzeitig wurde es über uns heller. Die Helligkeit fing an zu wechseln. Wir waren offenbar in ein Feld ziehender Nebelschwaden gelangt, und mit einem Mal konnten wir zwischen zwei dichteren Schwaden die helle, von der Sonne beleuchtete Kante einer hohen Felswand erkennen, deren Existenz wir nach unserer Karte schon vermutet hatten. Einige wenige Durchblicke dieser Art genügten, um uns ein klares Bild der Berglandschaft zu vermitteln, die wahrscheinlich vor und über uns lag; und nach weiteren zehn Minuten scharfen Anstiegs standen wir auf einer Sattelhöhe über dem Nebelmeer in der Sonne. Im Süden waren die Spitzen des Sonnwendgebirgs und dahinter die Schneegipfel der Zentralalpen in voller Klarheit zu erkennen, und über unseren weiteren Aufstiegsweg gab es keinerlei Zweifel.

Der Physiker Werner Heisenberg verglich mit diesem Aufstieg durch den Nebel zur Sonne die Lage der Atomtheorie im Jahre 1924. Bald nach diesem Ereignis hat er während eines Kuraufenthalts auf Helgoland die entscheidenden Grundideen für die Entwicklung der Quantentheorie.

Das alles steht in einem kleinen Büchlein namens "Quantentheorie und Philosophie", in dem einige Aufsätze von Werner Heisenberg versammelt sind. Beinahe durchgehend beginnt er diese Aufsätze mit der Schilderung eines Zusammentreffens verschiedener wichtiger Physiker, das meistens in einen Spaziergang im Garten mündet, bei dem dann physikalische und metaphysische Probleme erörtert werden.

Ich weiß nicht, ob Heisenberg ein so gutes Gedächtnis hatte oder ob er diese Dialoge nur sinngemäß wiedergibt. Bemerkenswert daran ist jedenfalls, dass er überhaupt so eine lockere Form wählt, um physikalische und philosophische Probleme darzustellen. Es ist dieselbe Form, der sich auch Platon vor mehr als zweitausend Jahren bediente.

Da man viele der Protagonisten kennt, ist das ziemlich kurzweilig und lehrreich, auch wenn die Dialoge hier und da etwas unauthentisch klingen. Meistens ist übrigens der junge Carl Friedrich von Weizsäcker dabei, der meistens argumentative Breschen reißt, während Heisenberg vornehm schweigend dem Gang des Gespräches lauscht. Es klingt leicht gönnerhaft, wie Heisenberg die Wortmeldungen von Weizsäcker einleitet:

Carl Friedrich fing nun an, die Voraussetzungen der Kantschen Philosophie etwas genauer zu analysieren

oder

Aber Carl Friedrich wollte nicht lockerlassen

oder

Carl Friedrich antwortete nun sehr mutig, daß er gerade aus der Naturwissenschaft die Berechtigung zu einer etwas optimistischeren Auffassung nehme.

Lustig ist das vor allem, wenn man diesen Carl Friedrich noch als öffentliche graue Eminenz kennt, die auf Kirchentagen das Wort ergreift.

Bei dem allen wurde mir deutlich, dass Heisenberg aus einem großen Fundus an klassischer Bildung schöpft. Auch bei seinen Gesprächspartnern kann man in dieser Hinsicht ein hohes Niveau voraussetzen. Vielleicht ist es gerade das, was sie so erfolgreich gemacht hat. Die Fähigkeit, in der Physik bis dahin Undenkbares zu denken, ergab sich aus ihrer klassischen Bildung, die heute von Exzellenziniativen übergangen wird, weil sie nicht meßbar ist und für die Politik nicht von unmittelbarem Nutzen zu sein scheint.

Dabei ist nach wie vor die Philosophie die Grundlage des wissenschaftlichen Denkens. Wer seine eigenen Methoden begreifen will, sollte ein bißchen Ahnung davon haben. Wie Heisenberg. Oder Weizsäcker. Ich meine natürlich Carl Friedrich.

Jordanus

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



Montag, 21. Juli 2008
Texte überfliegen?
Montag, 21. Juli 2008, 01:14
Nein, abschreiben ist besser. Mindestens die guten Stellen. Walter Benjamin zeigt in seinem Buch "Einbahnstraße", warum:

Die Kraft der Landstraße ist eine andere, ob einer sie geht oder im Aeroplan darüber hinfliegt. So ist auch die Kraft eines Textes eine andere, ob einer ihn liest oder abschreibt. Wer fliegt, sieht nur, wie sich die Straße durch die Landschaft schiebt, ihm rollt sie nach den gleichen Gesetzen ab wie das Terrain, das herum liegt. Nur wer die Straße geht, erfährt von ihrer Herrschaft und wie aus eben jenem Gelände, das für den Flieger nur die aufgerollte Ebene ist, sie Fernen, Belvederes, Lichtungen, Prospekte mit jeder ihrer Wendungen so herauskommandiert, wie der Ruf des Befehlshabers Soldaten aus einer Front. So kommandiert allein der abgeschriebene Text die Seele dessen, der mit ihm beschäftigt ist, während der bloße Leser die neuen Ansichten seines Innern nie kennenlernt, wie der Text, jene Straße durch den immer wieder sich verdichtenden inneren Urwald, sie bahnt: weil der Leser der Bewegung seines Ich im freien Luftbereich der Träumerei gehorcht, der Abschreiber aber sie kommmandieren läßt. Das chinesische Bücherkopieren war daher die unvergleichliche Bürgschaft literarischer Kultur und die Abschrift der Schlüssel zu Chinas Rätseln.

Ich hatte von jeher die Angewohnheit, Textstellen abzuschreiben, die mir besonders auffielen. Ich dachte, das tat ich, um sie festzuhalten. Aber eigentlich braucht einer das vor allem auch, um sie nachzuvollziehen.

Jordanus

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



... ältere Einträge