Tolle Lege
Samstag, 19. Juli 2008
Strenge gehört zum Leben
Samstag, 19. Juli 2008, 13:27
Es gibt viele wissenschaftliche und trockene Einführungen über Kierkegaard. Sie wenden sich meist nur seinen philosophischen Schriften zu und nehmen nicht einmal zur Kenntnis, dass die philosophischen Schriften nur Teil eines größeren Gesamtkonzepts sind. Seine philosophischen Schriften verfolgen dabei oft nur den Zweck, den Leser zu dem hinzuführen, was Kierkegaard eigentlich ausmacht.

Walter Nigg hat in seinem Buch über Kierkegaard die ganze Spannweite seines Werkes erfasst. Gerade am Anfang versucht er deutlich zu machen, welche Herausforderung in diesem Werk steckt. Man kann Kierkegaard nicht einfach nur lesen und damit fertig, man muß ihn sich aneignen! Wenn man ihn nur objektiv wissenschaftlich wahrnimmt, dann versteht man ihn nicht.

Die Größe seines Projektes hat Kierkegaard selbstbewußt vorausgesehen: "Es wird noch die Zeit kommen, wo die Mädchen vor Begeisterung erröten werden, wenn ein Dichter die ganze Anlage meiner Existenz erzählen wird."

Genau das versucht Walter Nigg in seinem Buch über Kierkegaard, da ist er ganz unbescheiden, und das mit Recht.
Bezeichnenderweise schreibt Walter Nigg über Kierkegaard kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Für Nigg ist Kierkegaard "ein großer Erzieher". Und gerade den braucht die Jugend nach dem Krieg, nach diesem Krieg.

Man kann einem von religiöser Spannkraft erfüllten Jüngling keinen besseren Rat erteilen, als sich Kierkegaard zum Erzieher zu wählen. Es ist ihm dann weder eine bequeme noch erfolgreiche Laufbahn beschieden, aber er kommt dafür mit dem Ewigen in eine reale Beziehung.

Laut Nigg geht es dem Erzieher um etwas heute und vielleicht auch damals ganz und gar Unpopuläres, nämlich um Strenge:

Eine Erziehung ohne Strenge kann nur schwammige Zöglinge hervorbringen, Menschen ohne Rückgrat. Strenge gehört zum Leben, und auf sie kann nicht verzichtet werden, in einer verwilderten Nachkriegszeit schon gar nicht. Sie allein vermag die uferlose Experimentierpädagogik der Gegenwart aus ihrer Orientierungslosigkeit zu befreien und ihr ein neues Ziel zu vermitteln. Strenge ist eines der entscheidenden Worte Kierkegaards. Er hat aller modernen Zuchtlosigkeit zum Trotz den Wert der Strenge betont und mit einer geradezu beschwörenden Gebärde der Christenheit zugerufen: "Was nötig ist, das ist Strenge," weil " allein Strenge zu retten vermag." In dieser Einsicht liegt der wichtigste Gehalt seines Rufes nach Erziehung. Darin dokumentiert sich die neue Zucht, die vorerst gar nicht gegen die Kinder geht, sondern gegen sich selbst. Wer Kierkegaard sich wirklich anzueignen versucht, muss wieder streng gegen sich selbst werden.

Und? Schon abgetörnt? Aber das war ja nur das Vorwort! Ich kann euch versichern, bei der Lektüre des Buches und bei der Anlage von Kierkegaards Existenz werdet ihr drüberwegkommen.

Denn das ist noch gar nichts. Wenn Kierkegaard das Leben eines Christen beschreibt, möchte man weglaufen.

Wovor zittert ein Mensch am meisten? Doch wohl vor dem Sterben, und in zweiter Linie vor dem Todeskampf, den man sich deshalb so leicht wie möglich wünscht. Aber ein Christ zu sein, das bedeutet, im Zustand eines Sterbenden zu sein ... und so zu leben in diesem Zustand. Es gruselt einem wohl, wenn man von den Leiden eines Tieres hört, das zur Vivisektion gebraucht wird; doch sind sie nur ein schnell vorübergehendes Bild von den Leiden des Christseins: im Zustand des Todes am Leben erhalten werden. Und nicht bloß das, es kommt noch eine Verschärfung hinzu. Denn diejenigen, die das Lager eines Sterbenden umstehen, pflegen doch nicht ihn anzugrinsen, weil er sich im Todeskampf windet, oder ihn zu hassen, zu verfluchen, zu verabscheuen - bloß weil er im Todeskampf liegt. Aber dieser Schmerz gehört zum Christsein und kommt von selbst, da wo es in dieser Welt mit dem Christentum wirklich ernst genommen wird.

Soweit. Hat jemand noch ein Problem mit Strenge?

Jordanus

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



Mittwoch, 18. Juni 2008
Geroks Gliederungen
Mittwoch, 18. Juni 2008, 02:11
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich die ganzen alten Bücher aus einem alten Diakonissenheim nahe der polnischen Grenze mitnahm. Eine von den Diakonissen schaute mir so trübsinnig hinterher. Ich kam mir vor wie ein plündernder Kapitalist. Der alte Pastor aber versicherte mir, die Bücher würde wirklich niemand mehr brauchen.
Unter den Büchern war auch ein Band mit Predigten von Karl Gerok. Sie waren nach den Sonntagen des Kirchenjahres geordnet. Eine Predigt vom 12. Sonntag nach Trinitatis stammte von 1849 und handelte von Johannes 8, 31-45. Jesus redet mit den Juden, die an ihn glauben. Er erklärt ihnen, wenn sie in seiner Rede blieben, würden sie die Wahrheit erkennen und die Wahrheit würde sie frei machen. Die Juden wundern sich und fragen, wieso sie denn frei werden sollen, sie seien doch niemandes Knechte. Jesus sagt: "Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht!"
Der Text ist noch ein bißchen länger, aber ich geb jetzt nicht alles wieder.
Wie redet nun Gerok über diesen Text?
Er redet erstmal von Freiheit. Ein brisantes Thema zu der Zeit. Die Revolution vom März 1848 war ein Jahr her, und im Badischen hatten die Preußen gerade den von Hecker geführten Aufstand blutig niedergeschlagen. Man kann das alles schön nachlesen im Stefan Heyms Roman "Lenz oder die Freiheit".
Karl Gerok nimmt vor diesem Hintergrund den Faden auf:

Es gibt ein Wort, das wie mit Zauberklang die Herzen der Menschen ergreift. Es klingt in die trübe, schwere Gegenwart herüber wie die Erinnerung an alte, goldene Zeiten und wie die Weissagung einer besseren, schöneren Zukunft. Die edelsten Thaten sind geschehen unter dem begeisternden Panier dieses Wortes, und die schwärzesten Verbrechen sind verübt worden auf Rechnung dieses Wortes. Blut und Thränen ohne Maß hat dieses Wort schon über die Erde gebracht und immer wieder doch bezaubert es die Herzen. Der Sklave lechzt danach in seinen Ketten, der Kranke betet darum in seinen Schmerzen, der Taglöhner seufzt danach im Schweiße seines Angesichts, der Menschenfreund denkt daran in seinen Planen und Entwürfen. Es gibt Zeiten, wo dieses Wort ein Sturm wird, der ganze Völker ergreift, wo es in allen Herzen wie ein Feuer brennt, in allen Adern wie ein Fieber tobt, von allen Lippen wie ein Evangelium erklingt; wo die ganze Gestalt der Welt erschüttert und umgewühlt wird durch dieses Wort, als sollte ein Weltbrand daraus entstehen, bis das Feuer ausgebrannt hat, bis der Sturm ausgewüthet hat, bis das Fieber vertobt hat, bis der Traum zerronnen ist und die Menschheit erwacht und sich ernüchtert die Augen reibt.
Wir kennen's Alle, dieses Wort. Es ist auch durch unsere Zeit jüngst wie ein Sturm gebraust; es hat auch unser Land fast aus den Angeln gehoben. Die Ohren sind uns noch voll davon: es heißt F r e i h e i t !


Muß ich noch dazu sagen, dass Karl Gerok ein Schüler von Gustav Schwab ist, der die griechischen Sagen und Epen in schöne deutsche Prosa fasste? Diese Vorrede hat es in sich. Ob wohl auch Leute unter seiner Kanzel saßen, die an der Revolution beteiligt waren? Die die Enttäuschung miterlebt hatten? Und er beginnt mit so einer Vorrede!
Und dann geht es weiter. Er meint, dies Wort ist

eine Himmelsgabe, aber die Hölle in ihrer Bosheit hat sich dieser Himmelsgabe bemächtigt und einen Fallstrick daraus gedreht, eine Lockspeise gemacht zum Verderben. Im heutigen Evangeliums steht einer vor uns, der kann uns dieses Wort auslegen, kann uns die beste Auskunft geben über die echte Freiheit, und nicht nur Auskunft darüber, sondern die echte Freiheit beut er uns an...

Und dann führt er zu seiner sehr knappen Gliederung hin. Seine Gliederung bestehen immer aus zwei oder drei Punkten, die er manchmal auch in Verse fasst, damit sie leichter zu merken sind. Gute Didaktik nenne ich das. Hier besteht sie nur aus zwei Frageworten:

Kommet, diesem Freiheitsprediger, dem großen Welterlöser wollen wir zuhören und uns, weil's der Text diesmal verlangt, von Ihm zeigen lassen:

die christliche Freiheit,

eine Freiheit

1) wovon?
2) wodurch?

...

Die christliche Freiheit, meine Lieben, wollen wir betrachten. Und das ist eine Freiheit
1) wovon? - Nicht von Gottes Geboten, nicht von den Lasten der Erde, sondern von den Ketten der Sünde...
...
2) wodurch? Wodurch wird sie uns zu Theil? Nicht durch Lüge und Unrecht, auch nicht durch Menschenwitz und Menschenmacht, sondern durch Gottes Sohn und das Wort der Wahrheit.


Ich entschlage mich jetzt der Mühe, hier die ganze Predigt darzustellen. Lesen müßt Ihr selbst. Ich wollte nur mal zeigen, wie der Gerok seine Predigten gliederte. Das finde ich echt klasse! Bei manchen anderen Predigten von ihm ist es so, dass die Kurzzusammenfassung, aus der die Gliederung hervorgeht, meist auf ein ziemlich gutes Textverständnis zurückgeht. Die Gliederungen erklären teilweise schon allein den Bibeltext! Das ist nicht so wie heute, wo die Gliederung nach Schäma F schon vorher feststeht.

Jordanus

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



Freitag, 6. Juni 2008
Fußball in Versen
Freitag, 6. Juni 2008, 01:47
Schon der Einband dieses Buchs erweckt Bewunderung. Er sieht aus wie ein Fußballfeld, und eine Grundwahrheit dieses Sports steht wie mit Kreide in den Rasen geschrieben darauf: "Die Wahrheit liegt auf dem Platz."
Nicht nur um wichtige Fußballspiele, sondern um Grundfragen der Menschheit geht es in diesen vorzüglichen Sonetten:

Was ist Realität? Erstaunter Mensch, begreife:
Das Leder fliegt im Raum und landet überall,
wo es auch hingeschickt mit Dropkick oder Drall
an einer Hand. Und nun beschreibt es eine Schleife.

Was nutzt da ein Protest? Was ändert ein Gekeife?
Geht dieser Ball zur Hand? Berührt die Hand den Ball?
Und ist ein Tritt ein Foul? Nur ein Zusammenprall?
Das ganz allein beschließt der Pfiff der Trillerpfeife.

Wohin der Referee das Leder fliegen sah,
entscheidet er allein, präzise, stumm, - doch flott.
Er selbst kreiert den Fakt, zieht weder hü noch hott.

Sein schwarzes Regelbuch ist die Enzyklika.
Er urteilt unumschränkt, das Buch ist polyglott.
Er ist der Souverän, er ist der liebe Gott.


Die Spanne der Zitate reicht von den Mythen der Griechen bis zum Religionsphilosophen Blaise Pascal, und alles ist meisterhaft in Sonette gegossen.
Der Autor Ludwig Harig ist in der DDR aufgewachsen, und seine Meisterschaft im Umgang mit Sonetten bestätigt mir einmal mehr die These, dass im Osten diese Tradition fast ungebrochen fortgeführt und geübt wurde, während man im Westen Short Stories schrieb und sich der Lyrik schämte.
Nur mit solcher Übung kann man diesen Kranz von Sonetten flechten und dabei die Geschichte und die Geschichten des deutschen Fußballs erzählen:

Ein jeder Eckball barg teutonische Gefahr,
war unberechenbar. Manch braver Magyar,
ließ immer wieder sich von einem überraschen.

Am Ende war ihr Spiel, war jeder Schritt vertan.
Denn kaum versahn sie sich, stand zwischen ihnen Rahn
und setzte seinen Ball noch zweimal in die Maschen.


So beschreibt Harig das legendäre Endspiel um die Weltmeisterschaft 1954 gegen Ungarn. Aber auch ganz aktuelle Spiele werden virtuos nachgedichtet:

Jens Lehmann rempelt fair kurz vor der Eckballfahne.
Ganz Bayern ist entsetzt. So kommt es zur Schikane:
Es hallt das halbe Rund fortan von schrillen Pfiffen.

Kommt Lehmann an den Ball, schon pfeift das Publikum.
Die stumpfen Bayernfans - borniert, stupide, dumm -,
sie haben leider nicht den Sinn des Spiels begriffen.


In diesem Band kann man dagegen nicht nur den Sinn des Spiels, sondern auch die ungebrochene Kraft der Sonette begreifen.
Leider muß ich das Buch morgen verschenken.

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



Die dürre Meßschnur
Donnerstag, 5. Juni 2008, 02:39
"Allerdings leben wir in einem Zeitalter, in dem die Theologie um wissenschaftliche Anerkennung buhlt und die Philosophen bei den Klempnern in die Lehre gehen.
Die Etymologen wissen von der Sprache ebenso wenig wie die Darwinisten vom Tier. Die einen fädeln die Worte, die anderen die Arten auf, und zuletzt bleibt nur der Faden, nur die dürre Meßschnur zurück. Daran mögen sie sich dann aufhängen."

Ernst Jünger

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren



... ältere Einträge