Tolle Lege
Dienstag, 20. Mai 2008
Dem Glück aus dem Wege gehen
Dienstag, 20. Mai 2008, 02:12
In den Kreisen des Bildungsbürgertums ist "Am Morgen vorgelesen" auf NDR 3 das, was für einen Christen die tägliche Andacht ist. Im Studium nahm ich mit Erfolg an dieser Übung teil. Ich schlief bis morgens um halb neun und dämmerte dann zu dieser Sendung in den Tag hinein.
Auf diese Weise habe ich einige gefährliche Bücher beim morgendlichen Dösen in mich hineingesogen: Fontanes "Jenny Treibel", Thomas Manns "Zauberberg" und so weiter. Aber abgesehen von der unsympathischen Stimme Gert Westphals hat mich nichts so geärgert wie die "Geschichte der Manon Lescaut und des Chevalier des Grieux" von Abbé Prevost. Ich habe nicht gewußt, dass man sich noch halb im Schlaf und ohne volles Bewußtsein so ärgern kann.
Der Chevalier des Grieux soll Theologie studieren, verliebt sich aber in die schöne Manon Lescaut, die eigentlich von ihren Eltern für das Kloster bestimmt ist. Die beiden verleben aber nur kurze Momente des ungestörten Glücks, denn die kleine Manon hat die unangenehme Eigenschaft, immer dann abzuspringen, wenn die Lage schwierig wird. Aber der Chevalier holt sie gegen alle Widerstände immer wieder zu sich zurück, auch wenn sie ihn immer wieder verrät und sein ganzes Geld und seine Reputation dabei draufgeht:

Alles, was man in Saint Sulpice über die menschliche Freiheit sagt, ist eine Fabel. Ich werde mein Vermögen und meinen Ruf um deinetwillen verlieren, ich sehe das wohl voraus. Ich lese mein Schicksal in deinen schönen Augen. Aber gibt es wohl einen Verlust, über den mich deine Liebe nicht trösten könnte? Die Vorteile des Reichtums berühren mich nicht, der Ruhm erscheint mir wie ein Rauch. Alle meine Pläne eines geistlichen Lebens waren törichte Einbildungen. Kurz, alle Güter außer denen, die ich von dir erhoffe, sind verächtlich und wertlos, denn sie können sich in meinem Herzen nicht einen Augenblick gegen einen einzigen deiner Blicke halten.

Ja, das klingt vielleicht jetzt nicht so besonders, aber damals, 1731, war das neu!
Ich Döskopp habe mich bei den morgendlichen Lesungen allerdings immer über die Treulosigkeit dieser Frau aufgeregt, die diese Liebe nur erwidert, wenn die Lage gerade günstig ist. Ständig verliert er sie und findet sie unter abenteuerlichen Umständen wieder, bis sie irgendwann in Amerika vor Erschöpfung stirbt und ihn als menschliches Wrack zurückläßt. Nein, das Buch hat mir wirklich keine Freude gemacht.
Bemerkenswert vor allem, dass der Autor eher die bedingungslose Liebe des Chevaliers für das Problem der Geschichte hält:

Man wird in dem Geschick des Herrn des Grieux ein erschreckendes Beispiel für die Gewalt der Leidenschaften finden. Ich schildere hier einen verblendeten jungen Mann, der seinem eigenen Glück aus dem Wege geht und sich freiwillig in das ärgste Unglück stürzt; der bei allen Gaben, durch die sonst eine glänzende Laufbahn verbürgt wird, doch zugunsten eines ruhmlosen und unsteten Lebens auf alle Vorteile des Reichtums verzichtet; der sein widriges Geschick kommen sieht und ihm doch nicht ausweichen will; der davon gequält und bedrückt wird und doch die Heilmittel verschmäht, die man ihm immer wieder anbietet, und die sein Unglück in jedem Augenblicke beenden könnten; kurz einen zwiespältigen Charakter, eine Mischung von Tugenden und Lastern, einen ewigen Gegensatz von guten Vorsätzen und schlechten Handlungen.

Laut Abbé Prevost war der Typ also selber schuld? Naja, damals mag das noch hingehen, da wurde von Frauen ja nicht so viel erwartet, aber heute sollten sie doch gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen, wie? Dann muß ich mich auch nicht mehr so aufregen.
Abgesehen von meiner Aufregung nämlich ist das Buch von großer Klarheit und sehr lesbar. Da ich es gerade in einer Buchhandlung unter der Erde wiederentdeckt habe, lese ich es jetzt vielleicht nochmal. Auch wegen Sätzen wie diesem:

Man kann oft nicht über die Vorschriften der Moral nachdenken, ohne mit Verwunderung zu bemerken, dass sie zu gleicher Zeit geschätzt und missachtet werden, und man fragt sich, warum das menschliche Herz doch so seltsam ist, die Ideen des Guten und Vollkommenen zu lieben, um im wirklichen Leben ihnen aus dem Wege zu gehen.

Paulus hätte das anders formuliert, aber so versteht man es auch.

Jordanus

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