Tolle Lege
Dienstag, 22. Januar 2013
Es ist alles da
Dienstag, 22. Januar 2013, 12:35
Vor ein paar Jahren schrieb Heinrich Detering in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen mit geistreichen Zitaten gespickten Artikel über die Bibel. Er endete mit diesem Satz:

Eigentlich fehlt hier überhaupt nichts, ist alles da, und da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.

Hier ist das Zitat aus Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos zu erkennen. Darin beschreibt Rilke die Statue eines griechischen Gottes, von der eigentlich nur noch der Rumpf übrig ist. In diesem Gedicht scheint Rilke die ursprüngliche Größe und Wucht der Statue zu erahnen. Wobei dabei klar ist: Es ist immer noch eine Statue, sonst nichts. Rilkes Gedicht endet mit den Worten „...denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“

Obwohl diese Statue ein Fragment ist, sieht Rilke darin mehr, als man mit bloßem Auge erkennen kann. Eigentlich komisch, dass Rilke einer Statue eine solche Kraft andichtet. Aber er war lange Sekretär bei Rodin, vielleicht hatte er da gelernt, dem Ausdruck des toten Steines oder anderen Gehölzes mehr abzulauschen als andere.

Das berühmte Schlussworte des Gedichtes zitiert Detering in seinem Artikel über die Bibel. Eigentlich ist das eine noch bessere Verwendung für Rilkes Wortschöpfung. Denn Deterings Artikel beschreibt die Bibel in ihrer literarischen Vielfalt, vor allem aber auch in ihrer einzigartigen Wirkung. Es heißt dort, sie sei eine Summe der gesamten Literatur der Menschheit, mitsamt der noch kommenden.

Auch die Bibel kommt einem manchmal vor wie ein Rumpf, ein sehr unvollkommenes Gebilde. Trotzdem enthält gerade sie immer wieder den Gedanken, dass wir es hier mit mehr zu tun haben als mit einem angestaubten alten Buch. Manche Geschichten haken sich im Gehirn fest und entfalten oft erst nach langer Zeit eine sehr merkwürdige Wirkung: Man hat plötzlich das Gefühl, gesehen, durchschaut zu werden. Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Oder anders gesagt:

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer
als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch,
bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein,
und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Hebräer 4, 12


Geistreicher Weise hat Detering den Satz "Du musst dein Leben ändern" weggelassen. Vielleicht ergibt sich das von selbst, wenn die Stellen mich sehen.

Der Kirchentag 2007 hatte übrigens das Motto "lebendig und kräftig und schärfer". Das war einfach so in den Raum gestellt, damit man es auch ja nicht in dem ursprünglichem Zusammenhang lesen konnte. In der Bibel ist es auf das Wort Gottes bezogen. Die Kirche bezog es auf sich selbst. Sehr vielsagend. Man kann sich manchmal kaum etwas weniger Scharfes und Lebendiges vorstellen als die Evangelische Kirche.

Aber wie sagte Adrian Plass so schön? "Die Toten werden zuerst auferstehen."

Jordanus

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